„Patienten auf Augenhöhe begegnen.“

Dr. med. Gunver Kienle ist Ärztin, Wissenschaftlerin und Mediatorin. Über Letzteres haben wir uns kennengelernt. Im Zuge der Studie ENTAiER kam sie auf mich zu und fragte, ob ich mit dem Studienpersonal ein Kommunikationstraining durchführen könnte. Mit großer Freude und großem Interesse habe ich den Kommunikationsworkshop sowie die Unterlagen in Abstimmung mit dem Studienteam erarbeitet. Lesen Sie selbst, was die Studie konkret untersucht und auf was in der Kommunikation der Studie Wert gelegt wird.  

Gunver, was wird bei der Studie ENTAiER untersucht?

Wir führen die Studie bei älteren Menschen mit chronischen Erkrankungen und erhöhtem Sturzrisiko durch. Dabei untersuchen wir zwei achtsame Bewegungstherapien: Tai Chi und Heileurythmie. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden Tai Chi- oder Heileurythmie-Übungen in Kursen durchführen und außerdem Zuhause üben. Unsere Grundüberzeugung ist, dass Bewegung essentiell für die Gesundheit und deren Erhalt ist. Gerade bei älteren Menschen lassen kognitive, körperliche und sensorische Fähigkeiten nach, weshalb sie unsicher in ihren Bewegungen werden und sich immer weniger bewegen. Dies ist ein hoher Risikofaktor, Krankheiten können fortschreiten, neue entstehen und die Personen vermehrt stürzen. Wir haben die Überlegung, dass wir mit den ausgewählten Bewegungstherapien viele Menschen erreichen und sie dazu bringen können, wieder Vertrauen und Freude an der Bewegung zu bekommen. Außerdem werden wir untersuchen, ob die Teilnehmerinnen und Teilnehmer weniger stürzen, weniger Verletzungen durch Stürze bekommen, ob sie weniger Angst vor Stürzen haben, ob sie besser im Alltag zurecht kommen, ob ihre Mobilität und Balance, aber auch ihre Stimmung und ihr Denkvermögen besser werden. Und dann wollen wir untersuchen, ob sich Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zeigen. Zum Beispiel, ob sie weniger Medikamente nehmen müssen, da die Anzahl der Arzneimittel ein weiterer Sturzrisikofaktor im Alter darstellt. Parallel untersuchen wir, wie oft die Patientinnen und Patienten die Übungen durchführen und wie motiviert sie sind, dies zu tun. 

Da sprichst du einen wichtigen Punkt an. Motivation hat auch viel mit Kommunikation zu tun. Kannst du in diesem Zusammenhang erläutern, warum die „Kommunikation“ für das Studienteam und die Studie so bedeutend ist?

Das ist eine interessante Frage, da Kommunikation eigentlich etwas ganz Selbstverständliches ist, aber in der Forschung etwas Neues anspricht. Dies hat verschiedene Aspekte und hierbei hole ich etwas aus: Früher war es so, dass Ärzte und Wissenschaftler wussten, was das Richtige für die Patienten ist. Doch dann zeigte sich, dass das, was in Studien untersucht wird, primär für Wissenschaftler und Ärzte wichtig ist. Für Patienten aber sind oft ganz andere Fragen von Bedeutung. Diese Beobachtung hat eine längere Entwicklung angestoßen, und mittlerweile nimmt man Patienten sehr viel mehr auf Augenhöhe wahr und bezieht sie viel mehr in Entscheidungen ein. Weltweit spricht man von einer partnerschaftlichen, partizipativen Patienten-relevanten Forschung.

Unsere Studie wird vom „Bundesministerium für Bildung und Forschung“ finanziell unterstützt. Es wird gefordert, dass Patientenvertreter die Studie mitplanen und mitgestalten. Das haben wir sehr ernst genommen. Und unsere mitarbeitenden Patientenvertreter haben uns gesagt, dass insbesondere ältere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die finanziell benachteiligt sind und zurückgezogen leben, ein erhöhtes Sturzrisiko haben und man ihnen besonders begegnen muss. Diese älteren Menschen brauchen mehr Zeit und Wertschätzung, und brauchen jemanden, der ihnen Mut macht und mit ihnen nicht patriarchalisch spricht. Dabei kam die Idee auf, dass wir mit allen, die Patientenkontakt haben, ein Kommunikationstraining machen werden. Diese Idee ist auch darin unterstützt, dass ich selbst als Mediatorin ausgebildet bin und erlebe, wie wichtig Kommunikation ist. 

Habt ihr denn schon eine Resonanz von den Teilnehmenden auf das Kommunikationstraining erhalten?

Allen hat das Kommunikationstraining sehr gut gefallen. Sie finden es toll, dass wir auf solche Punkte achten und Wert darauf legen. Aber es wird sich sicherlich noch zeigen, wie die Übungsleiter dann im Übungsalltag damit umgehen werden. Was ich hervorragend finde, ist, dass wir schriftliche Kommunikationsempfehlungen erarbeitet haben, beispielsweise den Telefonleitfaden für Ärzte und Studynurses, der ihnen eine Hilfestellung gibt, was sie und wie sie die Patienten fragen müssen und auf besondere Situationen eingehen können. Darüber hinaus werden wir die Übungsleiter alle vier Wochen befragen, ob sie die Unterlagen entsprechend angeschaut haben, und ob dies für sie nützlich ist. Wir werden das Thema „Kommunikation“ leider nicht streng wissenschaftlich evaluieren können. Das bedauere ich, doch das hätte insgesamt den Rahmen gesprengt. 

Gunver, lass uns zum Schluss kommen:  Im Zuge dieser Studie empfehlt ihr seitens des Studienteams das Buch „In Ruhe verrückt werden dürfen“. Was macht dieses Buch für diese Studie so besonders?

Ich finde es sehr spannend, dass in diesem Buch ein Blickwechsel stattfindet, dass man den Umgang mit alten Menschen aus ihrer eigenen Sicht betrachtet. Hierbei wird aufgezeigt, dass viele Kommunikations- und Verhaltensweisen aus unserer Sicht Sinn machen, aber aus dem Blickwinkel der älteren Menschen teils katastrophal sind. Deshalb ist es so wichtig, sich in die Situation und das Empfinden der älteren Menschen hineinzuversetzen. Wenn man das nicht tut und den älteren Menschen nicht auf Augenhöhe wahrnimmt und begegnet, können sich das gesamte Krankheitsbild und alle Abläufe drastisch verschlechtern. In medizinischen Systemen, vor allem, wenn sie unter ökonomischen Zwängen stehen, läuft man Gefahr, Menschen zu einem Objekt zu machen und ihnen nicht mehr auf Augenhöhe als Individuum zu begegnen. Dadurch verschlechtert man die Erlebenssituation, aber auch die funktionelle Krankheitssituation. Das – so finde ich – ist in diesem Buch hervorragend dargestellt. 

Hier finde ich auch spannend, dass die entsprechende Kommunikation den Selbstwert der eingeschränkten Menschen erhöhen und erniedrigen kann.

Das ist eine ganz entscheidende Sache. Die Wertschätzung des Gegenübers ist ja wie ein Leitbild in unserer gesamten Studienkommunikation. Es ist überaus wichtig, die gesunden und funktionierenden Aspekte des älteren Menschen zu fokussieren. Das ist ein essentielles Moment, damit die Patienten überhaupt mitmachen und motiviert sind. Wir tendieren in der Medizin zu einer Defizit-orientierten Blickweise. Es ist die Frage, wie sinnvoll und hilfreich das ist. Und ob man nicht durch Ressourcen-Orientierung beim Gegenüber viel mehr erreichen und damit auch sein Selbstwertgefühl und den Gesundungsprozess verbessern kann. 

Vielen Dank, Gunver, für das überaus interessante Gespräch. 

Dr. med. Gunver Kienle
UNIVERSITÄTSKLINIKUM FREIBURG
Institut für Infektionsprävention und Krankenhaushygiene
Unizentrum Naturheilkunde
Breisacherstr. 115B · 79106 Freiburg
Telefon: +49 761 270-83200
Telefax: +49 761 270-83230

gunver.kienle@uniklinik-freiburg.de
www.uniklinik-freiburg.de
www.uni-zentrum-naturheilkunde.de
https://www.uniklinik-freiburg.de/entaier-studie.html

Die Stolper-Studie

Es knirschen die Knochen,
Die Nase gebrochen.
Ein Riss an den Ohren,
Zwei Zähne verloren.

Gestolpert über die eigenen Zehen …
Schon war’s geschehen.

Doch hab‘ ich zum Glück

– dem Himmel sei Dank –
Im Hirn noch alle Tassen im Schrank.
Drum wurde der feste Entschluss gefasst:
Noch ist nicht die Zeit für Trägheit und Rast.
Ich will nicht rosten, ich will noch nicht ruh‘n:
Gegen‘s Stolpern muss ich dringend was tun.

In Freiburg wird eine Studie kreiert
Für uns Alte.
Wenn s nicht mehr läuft wie geschmiert,
Die innere Balance sollen wir lernen zu finden,
Wie der Geist und die Seele sie heimlich uns künden.

Ob durch Eurythmie?
Ob durch Tai Chi?
Das weiß man halt nie.

Waltraud Koneczny, Tübingen, www.off-track.de