Altenpflege: Die Selbstständigkeit älterer Menschen aktiveren und ihre Eigenheiten respektieren

„Madame, essen!“ – diese Aufforderung klingelt jetzt noch in meinem Ohr und erzeugt ein Gefühl von „genervt sein“. Genervt über die letzten beiden Betreuungskräfte meiner Mutter, die sie beim Essen wie eine Gans gestopft haben. 

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass meine Mutter zu Beginn des Sommers erhebliche Kau- und Schluckbeschwerden hatte. Hin und wieder zuckte sie zusammen und sagte leise „Aua“. Wir hatten die Befürchtung, dass dies mit ihrer dementiellen Erkrankung zusammenhängt, und sie bereits jetzt schon peu à peu das Essen verlernt. Umso dankbarer waren wir, als der Zahnarzt eine Druckstelle im Mund festgestellt hat. Er schliff an ihrer Prothese einfach etwas weg. Anschließend gingen die Beschwerden sukzessive zurück, und mittlerweile isst sie wieder ganz normal. Während dieser Zeit „stopften“ die Betreuungskräfte das Essen schnellstmöglich in meine Mutter hinein. Ihre Backen waren noch gefüllt und direkt kam der nächste Schub mit Essen. Meine Mutter tat mir richtig leid, so dass ich einschritt. 

Seit ich die beiden Bücher – „In Ruhe verrückt werden dürfen“ und „100 Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz“ gelesen habe, versuche ich im Zusammensein mit meiner Mutter wertschätzender und verständnisvoller zu kommunizieren. Ich habe durch beide Bücher insbesondere folgendes gelernt:

  1. Ich hole sie entweder dort ab, wo sie gerade steht. Oder ich gehe dort hin, wo sie in diesem Moment ist und begegne ihr dort.
  2. Es gibt immer einen Grund für das jeweilige Verhalten bei älteren Menschen. Und bevor ich meiner Mutter meine Haltung aufoktroyieren möchte, versuche ich zunächst zu verstehen, was hinter ihrem Verhalten stecken könnte. 

Insbesondere bei meinem erwähnten Beispiel erinnerte ich mich an eine Passage im Buch „100 Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz“. So wird im ersten Kapitel der Fehler „Annahme, manche Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz seien anderen nicht zuzumuten“ beschrieben. Hierbei wird das Fazit gezogen, als Betreuungs- oder Pflegeperson zunächst zu fragen, warum sich ein Klient so verhält. Sehr schön finde ich im Übrigen auch, dass die beiden Autorinnen – Jutta König und Claudia Zemlin – zu Beginn deutlich machen, demenzkranke Menschen nicht als Patienten, sondern als Klienten anzusehen. Allein dieser Begriff und die damit verbundene Bedeutung erzeugt bei mir eine andere Haltung: Ich möchte meiner Mutter eine Umgebung und Begleitung bieten, die ihr selbstständiges Handeln ermöglichen. Insgesamt sind die Kapitel dieses Buches in kurze Passagen unterteilt. In jeder Passage wird ein Fehler beschrieben und am Ende ein Fazit gezogen, das für die Leserinnen und Leser praktische Hinweise und Erläuterungen enthält. Letztlich geht es darum, die eigene Haltung, die pflegerische Kompetenz und das fachliche Know-how immer wieder zu überprüfen und zu verbessern. Genau dafür wurde dieser prägnante Ratgeber konzipiert.

Das Buch von Erich Schützendorf und Helmut Wallrafen-Dreisow „In Ruhe verrückt werden dürfen. Für ein anderes Denken in der Altenpfelge.“, berichtet aus dem Tagebuch des Josef Weiers. Der 72-Jährige entschließt sich nach dem Tod seiner Frau, in ein naheliegendes Altersheim zu ziehen, da seine beiden Söhne nicht in der unmittelbaren Nähe wohnen. Sehr eindrücklich schildert er fast Tag für Tag seine Erlebnisse in seinem neuen Zuhause. Passend zu meinem Exempel mit meiner Mutter beschreibt er zum Beispiel ein „bedrückendes“ Erlebnis, als ein anderer Bewohner sein gekautes Fleisch wieder auf den Tellerrand legte. Sowohl die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner, als auch das Küchenpersonal schimpften mit ihm, was Josef Weiers hingegen sehr „gemein“ empfand. Im Nachhinein denke ich, ob dieser andere Bewohner vielleicht auch eine Druckstelle im Mund hatte… Was in diesem Tagebuch angesprochen wird, machen die realen Protokolle aus dem Pflegealltag noch deutlicher: Der Fokus ist darauf gerichtet, dass die Abläufe nach dem Verständnis des Pflegepersonal entsprechend zu funktionieren haben. Die Bedürfnisse und Charaktereigenschaften der Klientinnen und Klienten werden hingegen wenig in den Alltag integriert und wertschätzend verstanden. Beide Autoren dieses Buches plädieren ebenfalls dafür, die Selbstständigkeit von alten Menschen zu aktivieren und ihre Eigenheiten zu respektieren, auch wenn sie aus der Sicht des Pflegepersonals bereits verrückt erscheinen.

König, Jutta / Zemlin, Claudia (2016). 100 Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz und was Sie dagegen tun können. Hannover. 4. Auflage.

Schützendorf, Erich / Wallrafen-Dreisow, Helmut (2016): In Ruhe verrückt werden dürfen. Für ein anderes Denken in der Altenpflege. Frankfurt am Main. 17. Auflage.